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14.06.2014

Dr.- Ing. Albert Ott

Prof. Dr.- Ing. Albert Ott, Wiesbaden

Mehr Studenten  -  geht das ?

Seit Jahrzehnten und verstärkt in den letzten Jahren wird von Politikern,  Wirtschaftsmanagern, Verbänden, von der OECD und anderen die Forderung erhoben, in Deutschland müsse ein größerer Anteil eines Jahrganges ein Hochschulstudium absolvieren. Dies wird verbal mit den steigenden Anforderung der Wirtschaft an Hochschulabsolventen begründet, quantitative Angaben zur Begründung  dieser Forderung und die Folgen ihrer Erfüllung fehlen jedoch zumeist.

 

Ein höherer prozentualer Anteil von Studenten hat jedoch nicht nur positive Folgen, sondern bewirkt u.a.auch

 

a)  ein Teil der Absolventen arbeitet in der anschließenden Berufstätigkeit an Aufgaben, die vorher

von Absolventen nichtakademischer Ausbildungsgänge erledigt werden konnten

 

b) ein höherer Anteil von Studenten hat zwingend einen niedrigeren Anteil eines Jahrganges in Ausbildungsgängen       der beruflichen Bildung zur Folge

 

c)  ein höherer studierender Anteil eines Jahrganges wird mit einer Niveauabsendkung des Studiums erkauft.

 

Zu a) macht Meinhard Miegel in seinem Buch "HYBRIS" [1]  lesenswerte Ausführungen; zu b) hört man von den Firmen, die auf dem Gebiet der beruflichen Bildung tätig sind und deren Verbandsvertretern ernstzunehmende, mahnende Worte über ein bevorstehendes, nicht hinnehmbares Maß an Ausdünnung der qualifizierten Beschäftigten in den betreffenden Berufen.

Dem Punkt c) schließlich gelten die nachfolgenden Überlegungen dieser Ausarbeitung.

 

Bevor damit konkret begonnen wird, folge wegen seiner Bedeutung für den hier behandelten Fragenkomplex ein wörtliches Zitat aus dem genannten Buch von Miegel

[Zitat]

Grotesk ist es, wenn Volljuristen bei Versicherungen Bagatellfälle bearbeiten, Volks- oder Betriebswirte hinter Bankschaltern stehen und genau das tun, was vor dreißig oder vierzig Jahren Realschulabsolventen nach einer zweijährigen Banklehre taten, oder Abiturienten Handwerksberufe ergreifen, die früher kompetent und zu jedermanns Zufriedenheit von Männern und Frauen gemeistert wurden, die mit Erfolg eine Hauptschule besucht hatten

[Ende des Zitats]

Weitere Bemerkungen zu diesem Thema findet man auf den Seiten 33 bis 44 des Buches. Nicht zuletzt unter dem Aspekt der im Zitat beschriebenen Beobachtungen aus der heutigen Realität sollten die Ergebnisse der folgenden Ausführungen nachdenklich machen.

 

Dazu eine wichtige Vorbemerkung: Wenn nachstehend immer wieder von "Niveau" die Rede ist, so soll damit keineswegs eine Wertung verschiedener Berufsgruppen oder beruflicher Tätigkeiten erfolgen. Es geht dabei ausschließlich um das Anforderungsniveau, welches mit einem Studium verbunden ist und welches sich nicht zuletzt durch die geforderte Fähigkeit zu theoretischem Arbeiten und zur Abstraktion von anderen Ausbildungsgängen unterscheidet.. Die Tätigkeit in allen Berufen, welche Ausbildung ihnen auch zugrundeliegen mag, ist zwar nicht gleichartig, aber sie ist gleichwertig.

 

Ausgangspunkt der folgenden Ausführungen ist die die einfache, auch beobachtbare Tatsache :

 

 eine Erhöhung des prozentualen Studentenanteiles an einem Jahrgang ist zwingend mit einer Absenkung

 des Anforderungsniveaus gekoppelt

 

Der Verdeutlichung des quantitativen Zusammenhanges zwischen Studentenzahl und Erfüllbarkeit von Niveauanforderungen gelten die folgenden Darlegungen. Eine quantitative Beschreibung erfordert die Verwendung einer Verteilungsfunktion.

Die Verteilung der Fähigkeit eines Jahrgangs potentieller Studienanfänger, ein bestimmtes Anforderungsniveau im Studium zu erfüllen, kann mit guter Näherung durch eine Gauß - Normalverteilung [2] beschrieben werden. Diese Verteilung hat zudem den Vorteil, auf vielen Taschenrechnern vordefiniert zu sein, so daß jeder Interessierte die hier beschriebenen Überlegungen auch  nachvollziehen und ergänzen kann. Andere Verteilungsfunktionen mögen zwar eine noch bessere Annäherung ermöglichen; die daraus zu ziehenden Schlußfolgerungen würden sich aber nur unbedeutend von den mit der Normalverteilung erzielbaren unterscheiden.

 

Die Normalverteilung ist in Bild 1 gezeigt. Oben steht die Verteilungsfunktion F(x), unten die Dichtefunktion f(x),; die Fläche unter der Dichtefunktion hat den (dimensionslosen) Wert 1. Die Verteilungsfunktion F(x) ist das Integral der Dichtefunktion. In Abänderung der in der Literatur meist gezeigten Darstellung von F(x), bei der die Verteilungskurve von links unten nach rechts oben verläuft, sind die Integralgrenzen hier so gewählt, daß F(x) den Flächenanteil rechts von einem Grenzwert in der Dichtefunktion darstellt. Daraus ergibt sich der von links oben nach rechts unten fallende Verlauf der Verteilungsfunktion.

 

Die Normalverteilung Bild 1 hat zwei freie Parameter, den Mittelwert m und die Standardambeichung s. Diese werden hier durch zwei Festlegungen bestimmt

 

derjenige Grenzwert, oberhalb dessen noch 10 % eines Jahrgangs das Anforderungsniveau eines Studiums erfüllen, wird gleich 1 gesetzt

derjenige Grenzwert, unterhalb dessen 5 % eines Jahrgangs das Anforderungsniveau eines Studiums nicht mehr erfüllen, wird gleich 0 gesetzt

 

In Bild 1 bedeutet das für die Verteilungsfunktion F(x)

           F(x = 1)  =  .1             F(x = 0)  = 0.95

und für die Dichtefunktion f(x)

         der grau unterlegte Flächenanteil rechts von x = 1 entspricht 10 % der Gesamtfläche von 1

         der (nicht mehr dargestellte) Flächenanteil links von x = 0  entspricht 5 % der Gesamtfläche.von 1

 

Dies ergibt die Zahlenwerte          m  =  0.562                   s  =  0.343

 

Der Punkt mit den Werten  F(x = 1)  =  .1   soll im folgenden als Referenzpunkt bezeichnet werden, x = 1 ist damit das Referenzniveau.

 

Folgende Anmerkung zur grafischen Darstellung Bild 1: Die Normalverteilung erstreckt sich zwischen -oo < x <+oo, was nicht darstellbar ist. Deshalb wird für die Grafik als untere Darstellungsgrenze x = 0 gewählt, für die obere Darstellungsgrenze der Wert oberhalb dessen noch ein Anteil von 1 % liegt.

Bild 1: Verteilungsfunktion F(x) und Dichtefunktion f(x) der Normalverteilung zur Beschreibung des Anforderungsniveaus  an Studienanfänger

Die Festlegung der Niveauanforderung auf den Wert 1 bei Erfüllbarkeit durch 10 % eines Jahrganges wird damit begründet, daß dieser Wert allgemein als angemessen betrachtet wurde, zu einer Zeit, als die Forderung nach starker Ausweitung der Studienanfängerzahlen noch nicht vehement erhoben wurde. Diesen 10 % - Anteil kann man im Rückblick auch als sinnvoll bezeichnen, denn die unter diesen Voraussetzungen ein Studium beginnenden Jahrgänge waren nach Abschluß ihres Studiums diejenigen, die den wirtschaftlichen Aufbau und Aufstieg Deutschlands in den Nachkriegsjahrzehnten maßgeblich mitgestaltet haben. Daß in den ersten Nachkriegsjahren der Anteil an Studienanfängern noch unter 10 % eines Jahrganges lag, ist dazu kein Widerspruch. Damals mußten die Kriegsfolgen erst nach und nach behoben werden, bis ein Anteil von 10 % erreicht werden konnte.

Bild 2 zeigt die prozentualen Anteile,  welche Studienanfänger an einem Jahrgang zwischen 1950 und 2010 hatten. Die Linie ist als Regressionslinie berechnet, um starke Schwankungen zwischen den Jahrgangswerten auszugleichen . Die Basiswerte für die Berechnung findet man in [3]. 

Bild 2:  Prozentualer Anteil  der Studienanfänger  an einem Jahrgang zwischen 1950 und 2010 (Daten aus [3])

Wollte man die Zahl der Studienanfänger steigern, so konnte dies nur mit einer Erhöhung des Prozentanteiles an einem Jahrgang erfolgen, andere Reserven potentieller Studienanfänger gab und gibt  es nicht. Ein Blick auf Bild 1 zeigt, daß eine Erhöhung von F(x) eine Verkleinerung von x  bedeutet, was einer Verringerung des Anforderungsniveaus für den Studieneintritt entspricht. Aus der in Bild 1 mit angegebenen Gleichung der Verteilungsfunktion F(x) folgt der quantitative Zusammenhang zwischen Prozentsatz p der Studienanfänger und Anforderungsniveau, der in Bild 3 dargestellt ist. R markiert das Referenzniveau, welches bei einem Anteil p = 10 % Studienanfängern gilt.

Zusammen mit Bild 2 folgt daraus unmittelbar der Verlauf des Anforderungsniveaus zwischen 1950 und 2010, welches in Bild 4 dargestellt ist..

Bild 3: Anforderungsniveau als Funktion des Prozentanteils von Studienanfängern an einem Jahrgang

Hier sind einige Anmerkungen über die Bedeutung und Wirkung der Anforderungsgrenze zu machen. Diese Grenze ist nicht so zu verstehen, daß alle Schulabgänger eines Jahrganges, welche die Niveauanforderungen erfüllen, automatisch ein Studium beginnen und alle anderen nicht. Hier wirken die individuellen Entscheidungen der potentiellen Studienanfänger, die nicht alleine vom Erfüllen eines Grenzwertes abhängen, sondern  auch  vom anderen Gesichtspunkten wie Studienfach, Hochschulstandort, von der Art, wie der Studienzugang geregelt wird und von anderen Gründen.bestimmt werden.  Eine Aufnahmeprüfung oder ein numerus clausus haben dabei ebenfalls entscheidende Auswirkungen. Die Erfüllbarkeit einer Niveaugrenze kann einem Studenten möglicherweise auch erst im Verlauf der ersten Studiensemester oder beim Ablegen der ersten Zwischenprüfungen deutlich werden. Mathematisch gesehen müßte über die Verteilungsfunktion an der Niveaugrenze also noch eine Wahrscheinlichkeitsfunktion gelegt werden. In diesen auf die grundsätzlichen Zusammenhänge Wert legenden Überlegungen wird dies nicht gemacht, auch deswegen, um die schon erwähnte leichte Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse nicht zu beeinträchtigen. Die hier gezeigten Ergebnisse würden sich dadurch auch nur unwesentlich verändern.

Die Niveaugrenze ist also in gewissem Maße als durchlässig anzusehen, gerechnet wird hier weiterhin mit einer festen Grenze, denn maßgeblich bleibt die Tatsache, daß der Trend zu einem Studium in allen Jahrgängen immer hoch gewesen ist und ein Studium als attraktive Ausbildungsmöglichkeit tatsächlich fast immer auch aufgenommen wurde, wenn die Möglichkeit hierzu bestand..

Bild 4: Anforderungsniveau als Funktion der Zeit für Studienanfänger

Bild 4 zeigt neben dem Grenzwert des Anforderungsniveaus auch dessen  Medianwert. Ein Blick auf Bild 1 zeigt seine Bedeutung: Der Median teilt die in der Dichtefunktion grau unterlegte Fläche in zwei gleiche Hälften und stellt also den Niveauwert dar, unter und über dem jeweils die Häfte der Studenten liegt. Tendeziell hat die Mediankurve den gleichen Verlauf wie die Grenzkurve, liegt jedoch  deutlich darüber und erreicht noch im Jahr 1985 etwa den Referenzwert 1. 

Interessant ist die in Bild 5 dargestellte Niveaudifferenz zwischen Median und Grenze  für die Studienanfänger. Sie zeigt, daß sich der Niveauunterschied  der Studenten, die in einem Semester studieren,  im Verlauf der Jahre ständig erhöhte. Diese "Niveauverbreiterung" hat erhebliche Auswirkungen auf die Lehre und die abzuhaltenden Leistungskontrollen in Form der Prüfungen, welche allen in der Hochschullehre Tätigen wohlbekannt sind.

Bild 5 : Differenz des Anforderungsniveaus Median und Grenze von Studienanfängern

Die bisherigen Überlegungen waren auf die Studienanfänger gerichtet. Ergänzend dazu sollen nun die Verhältnisse bei den Absolventen betrachtet werden. Den Bildern 2, 4 und 5 werden dazu die Bilder 6 bis 8 hinzugefügt.

Bild 6 zeigt eine seit 1960 zunehmende Lücke zwischen den Prozentanteilen an Studienanfängern und Absolventen, die sich allerdings im letzten Jahrzehnt wieder etwas zu schließen beginnt. Diese Lücke zeigt den Anteil, den man als "Studienabbrecher"  bezeichnet, wobei ein Abbruch verschiedene Gründe haben kann, von denen die Niveauanforderung nur einer, allerdings ein wesentlicher ist. Studienabbrüche haben  zwei Aspekte, welche mit Bild 7 noch verdeutlicht werden: Sie sind einerseits mit einer großen Zahl individueller Enttäuschungen verbunden, die beim Beenden  eines Studiums ohne Abschluß zwangsläufig entstehen. Sie zeiges andererseits, daß die Absenkung des Anforderungsniveaus, die zur erwünschten Erzielung hoher Anfängerzahlen erfolgte, sich nicht vollständig bis zu den Absolventenjahrgängen fortgesetzt hat. Bildungspolitiker haben zur Behebung der Diskrepanz zwischen Anfänger- und Absolventenzahlen noch einige Aufgaben zu bewältigen. Die Absenkung von Prüfungsniveaus ist dazu kein geeignete Mittel.

Was oben hinsichtlich der Niveaudifferenz zwischen Median und Grenze bei den Studienanfängern bereits gesagt wurde, gilt gemäß Bild 8 auch für die Absolventen, wenn auch in etwas geringerem Maße.

Bild 6:  Prozentualer Anteil eines Jahrganges der Studienanfänger  und Absolventen zwischen 1950 und 2010

             (Daten aus  [3] )

Blld 7: Anforderungsniveau als Funktion der Zeit für Studienanfänger und Absolventen
Bild 8 :  Differenz des Anforderungsniveaus Median und Grenze von Studienanfängern und Absolventen

Es wäre natürlich aufschlußreich, die durchgeführten Überlegungen auf andere Länder, europäische und außereuropäische,  zu erstrecken und die Ergebnisse mit denen aus Deutschland zu vergleichen. Der Begriff Studium ist jedoch in den verschiedenen Ländern mit extrem unterschiedlichen Lehrinhalten und Niveauanforderungen  verbunden, wobei auch sehr von deutschen Standards abweichende Berufsausbildungen mitunter als Studium bezeichnet werden, so daß eine Vergleichbarkeit erst nach einer genauen  Aufgliederung der Bildungs- und Ausbildungsgänge möglich wäre.

Die bisherigen Überlegungen wurden neutral hinsichtlich der Studienfächer geführt. Ein Blick auf einschlägige Werte der Bildungsstatistik zeigt jedoch, daß zwischen den Fächern erhebliche Unterschiede in den hier betrachteten Merkmalen bestehen. Unter dem Aspekt der künftigen Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft auf einem internationalen Markt mit starken Wettbewerbern wäre vor allem eine differenzierende Anwendung der hier gemachten Überlegungen zwischen der Gruppe der MINT - Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) auf der einen und der Nicht-MINT-Fächer auf der anderen Seite. sehr interessant.

Das Wort "Bildung" ist heute in aller Munde und die Forderung "mehr Mittel für die Bildung" geht allen leicht von den Lippen. Sehr viel leiser wird es schon, wenn es darum geht, was man unter Bildung verstehen und also konkret fördern soll. Und völlig vergessen wird, daß Bildung nicht bereits durch die Inanspruchnahme von Fördermitteln entsteht, sondern eine  intensive Mitwirkung des Einzelnen durch ausdauernde Anstrengungen beim Bildungserwerb erfordert. Es wäre ein Gebot der Fairness seitens der Bildungspolitiker, dies den Bildungswilligen deutlich zu machen und weniger von den "ZU BILDENDEN" zu  sprechen als vielmehr von den "SICH BILDENDEN".

 

Anmerkungen

1) wenn hier von Studenten, Studienanfängern, Absolventen usw. gesprochen wird, so ist selbstverständlich gemeint : Studenten und Studentinnen, Studienanfängern und Studienanfängerinnen, Absolventen und Absolventinnen usw.

2) wo es sinnvoll erscheint, wurde hier nicht die neue Rechtschreibung verwendet, sondern die "alte" beibehalten.

Literatur

[1]
Miegel, Meinhard, HYBRIS, Berlin 2014

[2]
die Gauß-Normalverteilung wird in jedem Lehrbuch über mathematische Statistik ausführlich behandelt

[3]
WIKIPEDIA
http://de.wikipedia.org/wiki/Abiturientenquote_und_Studienanfängerquote

[4]
Bundesministerium für Bildung und Forschung
http://www.datenportal.bmbf.de/portal/de/K25.gus

[5]
Statistisches Bundesamt, Wiesbaden
https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/BildungForschungKultur/ThemaBildungForschungKultur.html

[6]
WIKIPEDIA
http://de.wikipedia.org/wiki/Studienabbruch

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