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„Theorie – Ballast“ über Bord werfen ?
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Es
ist schick und fast allgemein üblich geworden, theoretisches Wissen und Können
und eine darauf beruhende Arbeitsweise verbal abzuwerten und mit dem Etikett
der überflüssigen und nutzlosen Spekualtion zu versehen. Schlagworte wie
"Formelkram", "graue Theorie", "theoretischer
Ballast" stehen dafür und meinen vor allem die Theorien der
Naturwissenschaften. Wenn diesen überhaupt noch eine Bedeutung zugebilligt
wird, dann rückt man vielfach deren experimentelle Arbeitsweise als
alleingültige Methode in den Vordergrund und legt nahe, ein Befassen mit
theoretischen Aspekten besser einigen
unproduktiven Spinnern zu überlassen. Vor
einer solchen Denkweise ist nachdrücklich zu warnen. Handeln ohne theoretisches Wissen bleibt
unverbindliche Spielerei, vergeudet Zeit und Ressourcen und muß am Ende
erfolglos bleiben. Wenn reines Experimentieren gelegentlich zu scheinbar
brauchbaren Ergebnissen führt, so
sind diese in der Regel weit vom "theoretisch" erreichbaren Optimum
entfernt und haben in der Praxis auf Dauer keinen Bestand. Auch wer den Natur- und Ingenieurwissenschaften
fern steht, wird doch anerkennen, daß beispielsweise die Halbleitertechnik,
der PC, der Transrapid, die Nachrichtensatelliten, wirksame Pharmazeutika,
die neue Kuppel des Reichstages oder verbrauchsarme Automobilmotoren (um nur
einige wenige allgemeinbekannte Beispiele zu nennen) ohne den Einsatz
theoretischen Rüstzeugs nie hätten entstehen können. Damit soll nun nicht
einer Überbetonung der Theorie das Wort geredet werden, vielmehr gilt es,
eine vernünftige Synthese zwischen theoretischer Basis und praxisorientiertem
Handeln zu finden, was natürlich möglich ist, wie gerade auch die angeführten
Beispiele zeigen. |
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Als
besonders unpassend muß die Verwendung des Schlagwortes
"Formelkram" in Verbindung mit den Natur- und
Ingenieurwissenschaften angesehen werden. Jedes Fachgebiet hat seine ihm
angemessene Sprache. Die Sprache der Naturwissenschaft ist nun einmal die
Mathematik, die hierbei durch nichts anderes zu ersetzen ist.
Glücklicherweise gibt es gute Wissenschaftspublizisten, die einem fachfremden
Publikum einen naturwissenschaftlichen Sachverhalt auch ohne Mathematik
verständlich darstellen können. Auch der Fachmann liest, hört oder sieht
deren Publikationen gerne und mit anerkennender Zustimmung. Wer jedoch das
umständliche und hilflose Gestammel in Wort oder Schrift erleiden mußte, mit
welchem mitunter versucht wird, eine naturwissenschaftliche Erkenntnis unter
bewußt betontem Verzicht auf jede Mathematik zu vermitteln, der wird
anschließend erlöst zur mathematisch formulierten Version greifen, um sich
anhand weniger Gleichungen mit dem Sachverhalt wirklich bekannt zu
machen. |
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An
der die Theorie abwertenden Haltung vieler unserer Publikationsorgane wird
die gesamte Gesellschaft, vor allem die junge Generation, später noch schwer
zu tragen haben. Sollte auf Dauer erfolgreich propagiert werden können, die
Beschäftigung mit Theorie sei etwas Minderwertiges und letztlich völlig
Unnötiges, wenn nicht sogar Verwerfliches, dann wird jungen Menschen dadurch
ein für uns alle verhängnisvoller Irrtum eingepflanzt. Wer auf der Suche nach
seinem Berufsweg ist, wird sich eben nicht auf ein Gebiet begeben wollen,
welches nahe der gesellschaftlichen Ächtung eingeordnet wird. Der unsere
wirtschaftliche Entwicklung empfindlich behindernde Mangel an
praxisorientieren, aber auch theoretisch versierten Naturwissenschaftlern und
Ingenieuren hat hier eine seiner Ursachen. |
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Daß
hier in der gesamten Gesellschaft ein Wandel in der Denkweise notwendig ist, zeigt
eine Beobachtung, die man in den elektronischen Medien immer wieder machen
muß. Wenn das Geplaudere eines Moderators oder Teilnehmers einer Talkshow -
Runde nicht zum ersehnten Applaus des Saalpublikums führt, dann kann
schließlich zum letzten Mittel gegriffen werden : Die hingeworfene Bemerkung,
man sei in der Schule besonders in Mathematik und den Natur-wissenschaften
ein schlechter Schüler gewesen, sichert sofort den erwünschten und bis dahin
verweigerten Beifallssturm des Publikums. |
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Der
Mench neigt dazu, Dinge, die ihm zu schwierig erscheinen und die er nicht
versteht, herabzustufen oder als bedeutungslos abzuqualifizieren und versucht
damit, seine eigene Ahnungslosigkeit in milderem Licht erscheinen zu lassen.
In unser aller Interesse sollten die in den Medien Tätigen diese menschlich
verständliche Schwäche auf ihren privaten Bereich beschränken, jedoch nicht
in ihre der Öffentlichkeit präsentierten Publikationen einfließen lassen. Das
sich abzeichnende Dahinschwinden unseres auf
teilweise weit zurückliegenden naturwissenschaftlich-technischen
Pionierleistungen beruhenden Wohlstandes sollte auch in diesem Bereich als
unüberhörbares Alarmsignal verstanden werden. |
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In
diesem Zusammenhang möchte ich eine Veröffentlichung in der FAZ als Anlass zu einem Vorschlag nehmen, der ein Beitrag zum
Heranführen junger Menschen an naturwissenschaftlich-technische Gebiete sein
soll. Im Feuilleton vom 31.1.2003 wurde das Ionentriebwerk der Universität
Gießen und sein Einsatz beim Transport des Satelliten ARTEMIS in die
geostationäre Bahn nach vorausgegangenem Ausfall der chemischen Triebwerke
besprochen. Ich schlage vor, daß abgestützt auf die veröffentlichten
Leistungsmerkmale in den Übungen des Physikunterrichts der Gymnasien die
(nicht veröffentlichten) Hauptdaten eines solchen Ionentriebwerks berechnet
werden. Mit dem physikalischen Wissen der Oberstufe aus den Gebieten
Mechanik, Elektrophysik, Wärmelehre können solche Daten (wie
Beschleunigungsspannung, Massendurchfluß, Ionenstromdichte, Triebwerksleistung,
Größe der Solarzellen, Äquivalentmenge an chemischem Treibstoff usw.) berechnet werden. Es läßt sich so den
Schülern die Verzahnung verschiedener Gebiete an einer Hightech-Lösung zeigen
und verdeutlichen, daß hier nicht "Formelkram", sondern angewandte
Theorie am Werke ist. Das didaktische Geschick eines Physiklehrers, der bei
seinen Schülern dabei nicht wenigstens ein Mindestmaß an Begeisterung wecken
kann, müßte durch Weiterbildungs-maßnahmen verbessert werden. Damit eine
solche Übung kein Einzelfall bleibt : In zahlreichen allgemein zugänglichen
Publikationen finden sich laufend hochinteressante Beispiele für technische
Anwendungen physikalischer Prinzipien, die sich in ähnlicher Weise
unterrichtswirksam verwerten lassen. |
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Wer
sich anhand eines die gesamte neuere Technik prägenden Beispiels, nämlich die
Entwicklungsgeschichte des Transistors, über die erfolgreiche Verzahnung
theoretischen Wissens und Könnens mit anwendungsorientierter
Erfindertätigkeit informieren möchte, lese das im besten Sinne gemäß obiger
Aussage ohne Mathematik hervorragend geschriebene Buch der Wissenschaftsjournalisten
Riordan/Hoddeson mit dem Titel "Crystal Fire" ISBN 0-393-31851-6. |
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Prof. Dr.- Ing. Albert Ott Wiesbaden Februar 2003 |
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